„Zusammen ergeben sie die Welt, in der wir leben“
(Max Beckmann)

Die 13 Bilder des Zyklus „TRANSIT“ von Albrecht Gehse

Mit „Transit“ ist Gehse 2021 der Aufbruch zu neuen malerischen Positionen gelungen. „Durchgemalte“ Passagen stehen auf seinen Bildern ganz unvermittelt neben improvisierten. Hier eine vollplastische Figur, da eine Figur mit lockerem Pinselstrich behandelt wie eine Vorzeichnung. Die offene und damit scheinbar amorphe Bildsprache unterscheidet den Zyklus grundlegend vom 2016 präsentierten „Aufruhr – 50 Bilder über die Welt“. 

In „Transit“ versucht der Maler die Gesellschaft – er bleibt dem Gesellschaftsbild treu – stärker denn je in einer Vielzahl von phantastischen Sujets und ungewöhnlichen Metaphern zu erfassen, öffnet aber zugleich seine Bildsprache. Er findet in der Reduktion zu überaus freien Kompositionen.

Die Bilder aus dem Zyklus „Transit“ wirken oft erstaunlich mühelos, ohne an gedanklicher Zuspitzung zu verlieren.

In „seiner“ Umschreibung des Begriffs TRANSIT sieht der Künstler nicht zuerst den politischen Teil, der das Überwechseln in einen Bezirk der Freiheit meint, eine Passage durch unwirtliches Gebiet. Natürlich schwingen diese Bedeutungen – bis zur Übersetzung von Passage als Route der Flüchtlinge von heute – alle mit, aber indem sich Albrecht Gehse selbst als Medium für den „Durchgang“ einbringt, wird das Thema TRANSIT größer und weiter. 

Formal öffnet er – im Vergleich zu AUFRUHR  seine Bildfindungen wieder stärker und lässt deutlich sichtbar Licht in freigehaltene Bildräume strömen.

(Michael Hametner)

Prolog - LUFTSPRUNG

Albrecht Gehse eröffnet seinen Zyklus mit einem aus dem Meer springenden Marlin und nennt das Bild „Luftsprung “. Sehr anders als bei seiner Bildfolge „Aufruhr“, gibt er von Anfang an die Bereitschaft zum Spiel – zum Spiel der Ironie und des Übermuts - zu erkennen. Ich, der Angler oder ich, der Fisch mache einen Luftsprung. Vielleicht ist es ein Luftsprung vor Glück. Mit dieser Deutung streitet allerdings das dominierende Blau, das dem Bild Kühle und Distanz verleiht. Ein Widerspruch, der auf Hintergründiges verweist, was vom Maler berechtigt an dieser Stelle des Auftaktbilds noch nicht näher bestimmt wird. - Dem Künstler ist als Meeresangler die Ur-Metapher vertraut: die unendliche Fläche bewegten Wassers, aus der sich plötzlich ein Fisch erhebt, der uns erinnert, das unter der Oberfläche noch eine zweite Welt existiert, uns unsichtbar und fern. Eine Reise in diese „zweite Welt“ - die Welt seiner Gedanken und Traumbilder – kündigt uns das Bild an. Die Passage (= Transit) beginnt.

So hoch die Wasser steigen

Das Bild SO HOCH DIE WASSER STEIGEN, mit dem er den Zyklus eröffnet, markiert deutlich den Übergang von AUFRUHR zu TRANSIT. Wir sehen noch die dichte Anlage des Bildes, aber es bleiben in dieser „Unterwasserwelt“ freie Bezirke. Sie sind zwar farblich nicht herausgehalten – denken wir uns ein Hochwasser, eine Überschwemmung, die Sintflut, im glücklichsten Fall ein Aquarium -, aber in unterschiedlicher Intensität einbezogen. Dominierend sind die Schreibversuche schwarzer Linien, ihre Auf- und Abschwünge, die Verbindungen zwischen unterschiedlich ausgeführten Porträts schaffen. Vielleicht das Chaos nach einer Schiffskatastrophe? Wie Gehse hier ein großes Format erscheinen läßt, als wäre es eine hingeworfene Skizze, ist ein außergewöhnliches Merkmal seines Könnens.

Im Einbaum ins Theater

Im zweiten Bild des Zyklus IM EINBAUM INS THEATER benutzt er wieder ein Haupttopos seiner Malerei – das Meer. Viele seiner Bilder benutzen Meer, Boot und Fisch als wiederkehrende „Wasserzeichen“. Es sind übrigens auch Zeichen seiner persönlichen Existenz als Bootseigner und Schiffer. In diesem Bild setzt er drei Köpfe auf Stangen, dass sie wie gepfählt erscheinen und gleichzeitig doch auch Stockpuppen sein könnten. Deutlich setzt der rechte Kopf als Theatermaske mit zum Schrei geöffneten Mund ein Zeichen in Richtung Theater. Wahrscheinlich handelt es sich um das Haupt der Medusa, die mehrfach von Göttern zum Opfer gemacht wurde und nach ihrer Enthauptung zu einem Schreckensbild, vor dem selbst Atlas erstarrte. Welches Theaterstück werden die drei geben? Alle Drei setzt der Maler einem stürmischen Wasser aus, was ihre Passage ins Theater – so sie denn gemeint ist - unsicher macht. Vielleicht nimmt der Betrachter mit dem Begriff Theater auch nur Zuflucht zur Hoffnung, die Katastrophe würde nicht real stattfinden.

Nach oben

Noch bis ins Jahr 2021 hat der Maler das Bild NACH OBEN weitergearbeitet. Immer stärker hat er die Grundsituation einer Party hoch über den Dächern der Stadt ausdifferenziert, immer genauer hat er die Porträts in konkrete Personen verwandelt, meist sind es Sammler, aber die oft auf seinen Bildern auftauchende Ronja, die Tochter des Malers, ist dabei. Es ist eine ausgelassene Gesellschaft, die sich auf der Dachterrasse versammelt hat, aber sie wird nicht dekadent überformt. Obschon der Künstler ihnen die Chance zum Aufstieg in die Welt der amerikanischen Ureinwohner verweigert. Das Bild des Indianers – geben wir ihm den ehrenvollen Namen Sitting Bull – schwebt über der Szene, die Treppe ist hochgezogen, ein indianisches Zeichen rechts oben wirkt wie ein Stopp-Schild. Die Gesellschaft unten muss sich mit dem Bild eines Indianers begnügen, das sie durch den Häuptlingsschmuck fast zur Ikone aufgehübscht hat. - Auch dieses Bild atmet durch seinen großen, lichtgeschichteten Himmel viel Luft.

Odyssee des Malers

Sähe sich der Maler als Odysseus, wäre er in ODYSSEE EINES MALERS an einem Scheideweg angelangt: links der Weg in einen farbigen Expressionismus und rechts die Treppe zur klassischen Figürlichkeit. Hier arbeitet Gehse mit einer sehr genau und bewusst gesetzten Allegorie, die dieses Bild als künstlerische Selbstbefragung ausweist. Immer mal wieder spielt der Künstler auch auf anderen Bildern mit abstrakten, ornamental-dekorativen Bildformen, als wollte er auch auf dem Gebiet der Abstraktion eine „Duftmarke“ setzten. Vielleicht wird er irgendwann später in anderen Zyklen statt des „rechten“ Wegs den linken wählen – wer weiß es?

Die Arche

Das Bild DIE ARCHE ist aus einem anderen, mit dem Titel ANKUNFT IN DER MÜHLE hervorgegangen. Die Umarbeitung zeigt den Einfluss seiner aktuellen Beschäftigung mit dem Zyklus WELTFIGUREN. Er hat das auch im Vorgängerbild in die Mitte gesetzte Boot mit Flüchtlingen besetzt. Diese sind in der Neufassung aber nicht mehr anonyme Helden. Der Maler nimmt das Wort „besetzt“ wörtlich, scheint es, und vergibt die wenigen Plätze im Boot an Helden seiner Filme. Die Besetzung wirkt so, als gäbe es in unseren Tagen keine wirklichen Helden mehr: alles Filmhelden. In der Arche erkennen wir als Bootsmann Leonardo DiCaprio und rechts im Boot den Bären, mit dem er als Trapper kämpft, hinter dem Bärenkopf der große Filmproduzent Atze Brauner, neben ihm ausgerechnet Curd Jürgens mit Ritterkreuz in Naziuniform, schräg dahinter Denzel Washington und links darüber Heinz Rühmann, an seiner Seite die freizügige Scarlett Johansson. Ganz hinten auf dem Platz des Steuermanns könnte der DEFA-Indianer Gojko Mitic stehen. Und links oben im Gebälk der Mühle ist das Alfred Hitchcock? Handelt es sich unten auf dem Balken neben dem großen Rad um den armlosen Bruce Lee? Die unheilige Familie rechts staunt über die Neuankömmlinge, vielleicht wird sie demnächst gegen die Überflutung mit Geflüchteten protestieren, vielleicht handelt es sich bei ihnen aber selbst um Menschen im Transit. Auch dieses Bild zeigt eine Verbindung zur Bildsprache im Zyklus AUFRUHR: Die Mühle wird zum Ort für angehaltenes Weltgetriebe. Das Bild zu einem Gesellschaftsporträt: Deutschland seit 2015.

Schlag die Trommel

Der Trommler, der dem Bild den Titel gegeben hat: SCHLAGE DIE TROMMEL, ist eigentlich die unscheinbarste Figur unter den Figuren. Viel prägnanter sind drei Karnevalsfiguren. Hinter der Frauenfigur vorn und dem Totenkopf sehr eindrucksvoll schemenhaft Tiere: Gans, Hund, Pferd. Auch das eine Transitsituation: der Übergang vom Menschen zum Tier und umgekehrt, das Erlebnis des Karnevals: Eine Minute ein Anderer sein! Zu dieser Deutung kommt mit dem Titel das gleichnamige Gedicht Heinrich Heines als Bekenntnis zu einem sinnenfreudigen Leben: „Küsse die Marketenderin“ und „Trommle die Leute aus dem Schlaf“ - „das ist die ganze Wissenschaft, das ist der Bücher tiefster Sinn“. Gehse fühlt sich von Heine zu diesem „Rausch-Bild“ legitimiert.

Die Welt so laut

Die Welt so laut stellt eine geschlossene Komposition rund um einen Kopf dar, der in der Bildmitte durch seine Größe herausgehoben ist. Um ihn herum tobt eine Meute von Einzelfiguren, realen und mythischen: oben rechts ist Atlas mit der Erdkugel erkennbar, darunter nackte Tänzerinnen in wilder Pose, links der Hutmann in heftiger Rede, dahinter, von einem Geländer umschlossen, zwei Figuren mit aufgerissenen Augen. Über dem Kopf der Zentralfigur ein Boot mit geblähtem weißen Segel. Vielleicht der Maler, der sich von der Szene entfernt? Sein Winken gilt einer Figur dahinter, ein Passagier am Heck eines wegfahrenden Schiffes? - Die Figuren sind in Bewegung, machen Gesten und verleihen dem Bildaufbau deutlich Unruhe – „Die Welt so laut“! - Der Aufbau kehrt mehrfach in Gehses Bild-Kompositionen wieder. Der Maler hebt eine Figur durch Größe und Position heraus und arrangiert um sie herum – gleich einem Wimmel-Bild – einen Reigen von Details, der über die Hauptfigur spricht. Was gesagt wird, bleibt offen.

Das Tor ist auf

Am deutlichsten zeigt sich die neue Bildsprache in dem Bild DAS TOR IST AUF. Rechts ein Mann, der sich an einen Mauerrest klammert, als sei er es gewesen, der die Öffnung erzwungen habe. Der andere, größere Teil des Bildes Meer und Himmel. Der Durchgang – auch das eine Bedeutung von TRANSIT – ist frei und der Maler lässt Luft und Licht in das Bild einströmen. Es ist beachtlich, wie viel Welt in dieses offene Bild gekommen ist: DAS TOR IST AUF war die Erfahrung am 9. November 1989, als sich nach 28 Jahren in Berlin für die Deutschen die Mauer öffnete. Ob das Bild auf diesen historischen Schlüsseltag deutscher Geschichte anspielt, der auch für den in Ostdeutschland geborenen Gehse eine Zeitenwende brachte, ist nicht sicher. Aber im Kontext des Titels TRANSIT gehört die Erfahrung eines geteilten Deutschlands dazu. - Im Bild schwingt viel mehr mit als ein Stück lockende Südsee. Der bereits erwähnte Satz von Gerhard Richter, wonach ein Bild klüger sein kann als sein Maler, scheint sich hier zu erfüllen, und kurioserweise auf einem Bild, das keinesfalls von Sinnbezügen überquillt. Offensichtlich ist Gehse eine malerische Dichte gelungen, die die inhaltliche Führung übernommen hat.

Gewöhnung an Haifische

Ebenfalls einen kritischen Gesellschaftsbezug besitzt das Bild GEWÖHNUNG AN HAIFISCHE. Der alte Mann, der rechts im Bildvordergrund am Boden hockt, hebt seinen Kopf einem TV-Gerät entgegen, auf dessen Bildschirm ein großer Haifisch seine spitzen Zähne zeigt. Vielleicht schaut der Alte so gebannt, um sich auf künftige Begegnungen mit Haien vorzubereiten – als eine Art Einübung in gefährliche Zeiten. Dreht man das Bild um 90 Grad, erschließt sich noch eine andere Szene: Wie in Betten oder weißem Styropor liegt da eine Familie (wieder die Heilige Familie?) - plötzlich bekommt das Bild vom Haifisch mit aufgerissenem Maul einen romantischen Kontrapunkt, als wäre auch noch das Gute in der Welt und man müsste sich nicht an Haifische gewöhnen. - Auch auf diesem Bild bietet sich dem Betrachter eine Sinnfülle, die Gehse in eine multiperspektivische Komposition einfügt, ohne sie zu ordnen. Es bleiben von einander getrennte, aber gleichzeitige Eindrücke, die noch kein ganzes Bild zulassen. In dieser Lage sehen wir uns als Betrachter doch auch. Als wäre es zu früh für eine komplexe Analyse der Phänomene und Zusammenhänge unserer Zeit. Der Künstler folgt zunächst seinem extrem gesteigerten farbigen Sehen.

Die weiße Taube

Das Bild Die weiße Taube ist aus dem Zyklus AUFRUHR übernommen. Bei seiner Entstehung 2015 trug es den Titel MORD AUF OFFENER BÜHNE. Die verdichtete Szene ist mit dem Mord durch eine Marionette, der Anwesenheit Mephistos und eines Zauberers deutlich als Theater ausgewiesen und der Tod lediglich ein Bühnentod. Trotzdem: Erzählt wird von Gewalt, auch wenn es sich angeblich um ihre öffentliche Vorführung im Theater handelt. Noch immer scheint es zuzugehen wie bei Hinrichtungen vor zweihundert und mehr Jahren. Gewalt als Kitzel, als Ereignis für das anwesende Publikum. Durch das Rot und das Schwarz haben wir es mit einem hochdramatischen, mit blutiger Gewalt aufgeladenen Bild zu tun. Von diesem Bild ging eine so intensive Beunruhigung aus, dass sie der Betrachter kaum ausgleichen konnte. Der Maler entschloss sich zu einem neuen Titel: DIE WEISSE TAUBE. Er lenkt den Blick in eine andere Richtung. Die aus der Hand des Zauberers aufsteigende weiße Taube zeigt an, dass wir einem Mord im Theater beiwohnen. Es wird nicht Blut fließen, sondern rote Farbe. Aber wir leben in einer Zeit, in der in jedem Moment aus Spiel Ernst werden kann. Das ist der innere TRANSIT-Zustand unserer Gesellschaft, und Gehse beantwortet ihn mit einem Albtraum.

Mayday

An den Schluss seines Zyklus TRANSIT setzt der Künstler ein großes Meerstück mit dem Titel MAYDAY. Als Bootseigner und Schiffer – wie bereits gesagt – ist er mit dem Wasser vertraut. Sicher wünscht er sich nie diese Gewalt, die er dem Meer auf seinem Bild gegeben hat. Glaubte der Betrachter, die Farben dürften sich austoben: das Grün-Blau des Wassers, das Weiß der Gischt, so irrte er. Hier ist alles genauestens bedacht, mehr als auf anderen Bildern. Vermutlich verhält es sich mit Bildern von bewegter See ähnlich wie mit dem Malen eines Himmels. Im Bruchteil von Sekunden ist das Bild ein anderes. Aber der Maler muss die Fähigkeit besitzen, den nächsten Zug vorauszusehen. Hinter dem Wellental läuft der Wellenberg und sucht es einzuholen, um sich darauf zu werfen und es zu ersäufen. MAYDAY heißt der Funkspruch, den ein Schiff in Seenot absetzt. Vielleicht ist auf diesem Bild das Schiff bereits vom Meer verschluckt. Dass die Wellen fünf, sechs, sieben Meter hoch sind, kann derjenige ermessen, der den kleinen roten Ball im rechten Bildteil in der Mitte ausfindig macht. Seine Winzigkeit belegt die Größe der Wellen. Und ist gleichwohl ein Zeichen, dass hier ein Schiff untergegangen sein könnte. Ein Boot mit Flüchtlingen im Transit in die Freiheit? Der Künstler gibt dieser Deutung auf dem Bild keinen weiteren Raum, aber dass mit diesem Meer nicht zu spaßen ist, dass immer noch die Flüchtlingsroute ist, bleibt beim Maler wie beim Betrachter ein im Hinterkopf anwesender Gedanke. Aussprechen muss man ihn nicht.

Epilog - Abend eines Fisches

Der Marlin, in aller Pracht seines bläulich-silbernen Leibs, springt aus dem Ozean. Dass intensiv rote Leuchten des Himmels verführte den Maler zum Titel „Abend eines Fisches“. Es könnte sein, dass der Maler sich selbst in einen Fisch verwandelt gemalt hat. Wer sonst könnte das Erlebnis eines Abendhimmels haben, wenn nicht der Künstler selbst? - Die bereits mehrfach in diesem Bildzyklus spürbaren Gesten von Übermut und Ironie finden – bei gleichzeitiger Präsenz einer Untergangsstimmung – ihre malerische Entsprechung in starken Kontrasten.